Redebeitrag zum Weltfrauentag

„Die Scham muss die Seite wechseln“. – Diesen Satz haben viele von euch in den letzten Wochen in Verbindung mit Gisèle Pélicot gehört, die von ihrem Mann jahrelang betäubt und dann von ihm und anderen Männern vergewaltigt worden ist. Unter dem Vorwand des Opferschutzes hatte die Verteidigung der Täter versucht zu erreichen, dass der Prozess nicht öffentlich stattfindet. Dagegen wehrte sich Gisèle Pélicot – u.a. mit dem Satz: „Die Scham muss die Seite wechseln.“

Gisèle Pélicot steht damit für eine Haltung, für die in den 1970er Jahren bereits eine andere Frau eintrat, die ebenfalls Gisèle hieß – nämlich Gisèle Halimi. Gisèle Halimi war Anwältin und verteidigte in den 1970er Jahren Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt waren – Frauen, die sich vor Gericht dann auch noch dafür rechtfertigen mussten, dass sie Opfer waren.

Es sind mutige und starke Frauen wie Gisèle Pélicot und Gisèle Halimi, die uns immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass die Scham nicht bei den Opfern liegen darf. Sie muss bei den Tätern liegen – bei den Menschen, die Gewalt ausüben – und genauso bei denen, die Mittäter sind, weil sie schweigen, verharmlosen oder wegsehen.

In Deutschland erlebt jede 3. Frau mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt. Fast täglich wird eine Frau von ihrem (Ex-)Partner ermordet. Das sind keine „Beziehungsdramen“. Das sind Femizide. Und doch werden sie immer wieder als „Familiensache“ verharmlost.

Die Scham muss die Seite wechseln – zu denen, die Gewalt anwenden, die Gewalt relativieren oder die nicht entschlossen genug handeln, um sie zu verhindern.

Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter – nicht nur physische, sondern auch psychische, politische und ökonomische.

Gestern war Equal Pay Day – das heißt, Frauen haben seit Jahresbeginn bis gestern umsonst gearbeitet. Frauen verdienen in Deutschland noch immer rund 16 Prozent weniger als Männer – für die gleiche oder gleichwertige Arbeit. Sie übernehmen den Großteil unbezahlter Sorgearbeit, reduzieren dafür ihre Arbeitszeit und zahlen später den Preis: in Form niedriger Renten und finanzieller Abhängigkeit.

Die Scham muss die Seite wechseln – zu denen, die diese Ungerechtigkeit als „individuelle Entscheidung“ abtun.

Wer als Frau politische Macht beansprucht, bekommt schnell Gegenwind – und zwar nicht nur für die Positionen, für die sie eintreten, sondern oft allein für die Tatsache, dass sie eine Frau sind.

Das konnte man gut am Beispiel von Annalena Baerbock sehen, die immer wieder mit Angriffen und Vorwürfen herumschlagen musste, die mit ihrer Politik nichts zu tun hatten: Fake-News über eine angebliche Vergangenheit als Sexarbeiterin, Diffamierungen über ihr Privatleben, … und wäre sie ein Mann, dann hätte sie Ende letzten Jahres auch niemand gefragt, ob sie als geschiedenes Elternteil ihr Amt als Außenministerin überhaupt führen könne.

Solche Attacken erleben viele Frauen, die politisch aktiv sind. Wer daran zweifelt, dass wir ein Gleichstellungsproblem haben, sollte sich anschauen, mit welchem Hass Frauen in der Öffentlichkeit begegnet wird.

Die Scham muss die Seite wechseln – zu denen, die Frauen kleinhalten wollen, anstatt sie nach ihrer Kompetenz zu bewerten.

  • Frauenanteil in der Gesellschaft: 50,6 %
  • Frauenanteil im frisch gewählten Deutschen Bundestag 32,4 % – damit haben alle Frauen zusammen noch nicht mal eine Sperrminorität!
  • Dass der Anteil so niedrig ist, hängt übrigens maßgeblich mit dem niedrigen Frauenanteil bei CDU und AfD zusammen (CDU: 23,1% in ihrer Fraktion; AfD: 11,8%)
  • Frauenquote in den Vorständen der 40 DAX-Unternehmen: 23,5 %

Sieht so eine gerechte Gesellschaft aus?

Wir stehen heute zusammen. Nicht, weil wir höflich um unsere Rechte bitten. Sondern weil wir sie einfordern und das werden wir tun, solange bis Gewalt gegen Frauen nicht mehr bagatellisiert wird, bis gleiche Bezahlung und Care-Arbeit, bis Macht und Einfluss gleich verteilt sind.

Lasst uns bei unserem Kampf für Gleichberechtigung auch solidarisch sein mit der queeren Community. In immer mehr Ländern (u.a. der Türkei und den USA) werden ihre Rechte gerade massiv eingeschränkt. Auch das sind Menschen, die aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung zunehmend Anfeindungen und Gewalt ausgesetzt sind – übrigens auch bei uns.

Wir dürfen das nicht tolerieren.

Vielen Dank.